Vulnerabel – mein Wort des Jahres 2020

Dieses Wort, das mir bisher fremd war, hörte ich zum ersten Mal aus dem Munde unseres Gesundheitsministers Alain Berset, der es auf den Pressekonferenzen mit seinem charmanten französischen Akzent angenehm weich klingen liess. Es passt zur Entwicklung des gesamten Jahres, und man sollte es auch 2021 im Auge behalten.

 Mit meiner eigenen Verletzlichkeit wurde ich bereits am vierten Tag des Jahres 2020 konfrontiert, nämlich bei einer Joggingrunde am Lago di Poschiavo. Als der Weg bei einem geschlossenen Hotel nicht weiterging, entschloss ich mich ohne gross zu überlegen, von einer Mauer auf den darunterliegenden Weg zu klettern. Dabei verlor ich das Gleichgewicht und stürzte auf den felsigen Strand. Und da lag ich nun, mit starken Schmerzen im linken Arm und linker Hand. Offensichtlich hatte ich damit den Aufprall abgefangen. Mein Kopf schien ok zu sein. Mit der rechten Hand gelang es mir mühsam, den Reissverschluss meiner Jacke zu öffnen, das Handy herauszuziehen und meinem Mann entgegenzustrecken, der inzwischen einen sicheren Weg zu mir herunter gefunden hatte. Mir war klar, dass mein Arm gebrochen war. Mein Kopf blutete und ein Versuch aufzustehen scheiterte wegen der Schmerzen. So blieb ich halt dort liegen, während mein Mann den Notruf wählte und oben an der Strasse auf den Krankenwagen wartete. Es dauerte ca. 20 Minuten, bis ich die erlösende Sirene hörte und die Sanitäter mit Bahre bei mir ankamen. «Mein Name ist Giustino», stellte sich der Rettungssanitäter vor, fragte nach Schmerzen, testete meine Reflexe und legte eine Infusion. Alles wirkte so beruhigend und professionell. Ich fühlte mich sicher. Im kleinen Spital von Poschiavo wurde ich geröntgt, die Platzwunde am Kopf genäht und bestens beraten, wo man den offensichtlich sehr komplizierten Bruch nun behandeln könnte. Da ich noch nie verletzt und in einem Krankenhaus war, war ich unendlich dankbar für die Unterstützung. Die Radiologin organisierte alles für den Transfer in die Klinik nach St. Moritz und Giustino versorgte mich auf der Fahrt über den Bernina-Pass mit Schmerzmitteln.

In der Klinik in St. Moritz erfuhr ich dann, dass mein linker Unterarm sieben Mal gebrochen war, das Radiusköpfchen verschoben und das Ganze noch am selben Tag operiert werden sollte. Zum Glück geriet ich an einen sympathischen Chefarzt, der auf obere Extremitäten spezialisiert ist und den komplizierten Bruch als Herausforderung zu einer aufwändigen Bastelarbeit annahm.

Nun weiss ich halt, wie schmerzhaft eine solche Geschichte ist, wie viel Geduld und Willenskraft man bei der Heilung braucht, wie sich ein Implantat im Unterarm anfühlt und was ein CRPS ist, nämlich eine Störung des vegetativen Nervensystems, ausgelöst durch ein Trauma. In meinem Fall ist die linke Hand davon betroffen. Inzwischen kann ich sie schon wieder recht gut brauchen, auch wenn die Fingergelenke noch schmerzen und sich die Hand anders anfühlt als die rechte. Damit kann man leben. Da gibt es Schlimmeres.

So bin ich mir meiner Verletzlichkeit bewusst geworden, wie schnell man eine Fehlentscheidung treffen kann, an deren Folgen man noch lange zu knacken hat. Ich denke jetzt zweimal nach, bevor ich etwas Unüberlegtes tue. Ich bin meinem linken Arm sehr dankbar dafür, dass er den Aufprall abgefedert hat und dadurch Schlimmeres verhindert hat. Und ich bin sehr dankbar dafür, dass ich in einem Land mit einem hervorragenden Gesundheitssystem lebe.

Das Thema Verletzlichkeit hat sich durch das ganze Jahr gezogen. Im März wurde klar, dass ein kleines Virus im Nu die ganze Welt beherrscht und unsere Systeme nahezu lahmlegen kann. Nicht nur die Wirtschaft ist verletzlich, sondern auch unser gesellschaftliches Miteinander. Während am Anfang noch Konsens und Solidarität den Umgang mit der Krise bestimmt haben, zerreiben wir uns inzwischen kommunikativ. Der Grundkonsens bezüglich Fakten droht verloren zu gehen. Menschen sind zutiefst verunsichert und suchen Halt bei Verschwörungserzählungen, die mit einfachen Erklärungen auf Schuldige verweisen. Doch mit Menschen, die die Realität leugnen, ist keine Diskussion mehr möglich.

Dass auch die Demokratie verletzlich ist, hat die Wahl in den USA gezeigt. Ein einzelner Egomane hat es geschafft, grosse Teile der Bevölkerung gegen die Institutionen einer Demokratie aufzuhetzen, indem er einfach immer wieder dieselben Lügen wiederholt und Menschen, die anders denken als er, mit wüsten Worten beschimpft oder lächerlich macht.

Die Erkenntnis aus all dem: Es ist wichtig, sich der Verletzlichkeit von Mensch, Natur, Gesellschaft, Wirtschaft und Umwelt bewusst zu werden und achtsam mit allem umzugehen. Die Kommunikation ist die Basis von allem. Es braucht verschiedene Sichtweisen und Meinungen. Aber es braucht auch einen Grundkonsens darüber, was Fakten sind. Und ein Vertrauen darin, dass es kompetente Fachleute und Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gibt. Kompetenz heisst nicht, dass es niemals Fehler gibt. Jeder Mensch macht Fehler, dessen sollte man sich bewusst sein. Doch Vertrauen entsteht durch transparente Kommunikation und Empathie. Damit komme ich zurück auf mein Beispiel: Ich wurde mit Empathie behandelt und man hat mich über den Eingriff und alle möglichen Risiken aufgeklärt. Mir war klar, dass es keine Alternative zu dem Eingriff gibt. Ich habe an die Kompetenz der involvierten Personen geglaubt und daran, dass alles gut wird. Das glaube ich auch 2021.

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